Geschichte

Mit den Görzer Grafen kamen im 13. Jahrhundert die ersten Juden als Zolleinnehmer in die Grafschaft Tirol. Die jüdischen Familien wurden meist toleriert, doch nur wenig geachtet, oft diskriminiert und verfolgt und immer wieder bei Katastrophen als Sündenböcke herangezogen. Zeiten der Toleranz wechselten mit Zeiten der Verfolgung. In den Bundesländern Tirol und Vorarlberg bestand seit 1617 die jüdische Gemeinde Hohenems,damit lag das Zentrum des jüdischen Lebens der Region in Vorarlberg. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wanderten jedoch die meisten Hohenemser Gemeindemitglieder ab.

Der Rabbiner Josef Link übersiedelte 1914 von Hohenems nach Innsbruck. Hier hatte sich seit den 1880er Jahren eine kleine Zuwanderergemeinde (größtenteils aus Wien, Böhmen und Galizien) gebildet, deren Mitglieder sich in der boomenden Landeshauptstadt vor allem als Händler und Kaufleute etablieren konnten. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg lebten knapp fünfhundert Juden in Innsbruck. Diese Zuwanderung blieb nicht unbemerkt. Der klerikale Antisemitismus, Arierparagraphen in Vereinen und der Tiroler Antisemitenbund führten dazu, dass die Jüdische Bevölkerung aus Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen wurde. Vom Patriotismus der Tiroler Juden zeugen die vielen Gräber im Ersten Weltkrieg gefallener Soldaten auf dem Innsbrucker Westfriedhof.

In der wirtschaftlichen Not der Zwischenkriegszeit erkaltete auch das politische Klima. Trotzdem pflegten die Innsbrucker Juden unter dem Schutz der Gesetze der Ersten Republik bis in die 1930er Jahre ein unbelästigtes Gemeindeleben. Am Schabbat traf man sich im Stöcklgebäude des Hauses Sillgasse 15. Mehrere Versuche, eine Synagoge zu errichten scheiterten an Geldproblemen.

Entwurf für eine Synagoge in der Gutenbergstarsse (1930er Jahre)

Entwurf für eine Synagoge in der Gutenbergstrasse (1930er Jahre)

Im März 1938 endete, wie für alle jüdischen Gemeinden auf dem Gebiet der nunmehrigen „Ostmark“, die Illusion der friedlichen Koexistenz. Jüdische Schülerinnen und Schüler wurden vom Unterricht ausgesperrt, Gewerbescheine eingezogen, Mietverträge unter Druck gekündigt und Geschäfte „arisiert“.

In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde in Innsbruck der Großteil des Vorstandes der Kultusgemeinde von SS-Männern in Zivil ermordet, der Betraum in der Sillgasse wurde zerstört.
Kurz davor war es dem letzten Rabbiner Tirols, Elimelech Rimalt gelungen, Innsbruck zu verlassen. Bis Mitte 1939 hatten fast alle Juden den Gau „Tirol und Vorarlberg“ verlassen müssen.
Mindestens zweihundert Tiroler und Vorarlberger Juden erlebten das Jahr 1945 nicht – die Bandbreite der Todesursachen reichte von den verzweifelten Selbstmördern des 12. März 1938 über die Toten der Reichspogromnacht in Innsbruck bis zu noch Mitte 1944 in Auschwitz vergasten Kindern. Von gut dreihundert ist bekannt, dass sie im Ausland oder auch im KZ überlebt haben; über siebzig Schicksale rassisch verfolgter Tiroler und Vorarlberger bleiben bis heute ungeklärt.

Nach 1945 kehrten nur einige wenige ältere Gemeindemitglieder wieder nach Innsbruck zurück, unter ihnen Rudolf Brüll. Brüll war 1946 aus dem KZ Theresienstadt zurückgekehrt und vom Land zum Ansprechpartner in jüdischen Belangen ernannt worden.

Am 14. März 1952 erfolgte endlich die gesetzliche Errichtung der nunmehrigen „Kultusgemeinde Innsbruck für die Bundesländer Tirol und Vorarlberg“.

1961 wurde ein kleiner Betraum in der Zollerstraße angemietet in dem sich die Mitglieder regelmäßig zu den hohen Feiertagen trafen. Daneben befand sich ein kleines Büro. von dem aus man sich nun um die Anliegen der Gemeinde und der Exiltiroler kümmern konnte. Es entstand langsam wieder eine Art jüdisches Gemeindeleben, man blieb dabei jedoch meist unter sich und wurde von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Die Archivsituation in der Kultusgemeinde gibt wenig Aufschluss über die Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre.

Betraum der Gemeinde in der Zollerstraße (ab 1961)

Erst 1981 wurde öffentlich eine Gedenktafel an die Schrecken der „Reichskristallnacht“ in der Sillgasse, dem Ort der 1938 verwüsteten Synagoge, im Beisein von Bürgermeister Alois Lugger, Landeshauptmann Eduard Wallnöfer sowie dem Botschafter Israels angebracht.

Ab 1987 war Esther Fritsch Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg. Mit ihr entwickelte die Kultusgemeinde schon bald ein neues Selbstbewusstsein.

1988 fand die bis dahin größte Gedenkveranstaltung in Innsbruck statt: 50 Jahre Gedenken an die „Reichskristallnacht“, bei der u.a. Bischof Reinhold Stecher, Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg und Landeshauptmann Alois Partl die Ansprachen hielten. 1989 wurde das Tiroler Komitee für christlich-jüdische Zusammenarbeit von Bischof Reinhold Stecher initiiert;

Bischof Stecher wurde im Juni 1990 für seine Verdienste um interkonfessionelle Verständigung von der Wiener Bnei-Brit und der Kultusgemeinde Tirol geehrt. Dies nicht zuletzt für seine führende Rolle in der Abschaffung des Kultes um das „Anderle von Rinn“, die für die Tiroler Juden so kränkende frühneuzeitliche Ritualmordlegende.

1991 kam es zur Grundsteinlegung der neuen Synagoge in der Sillgasse in Innsbruck; genau an dem Ort, an dem sie bis zum November 1938 gestanden hatte. Zu dieser Feier lud der Bürgermeister der Stadt Innsbruck, Romuald Niescher, alle aus Innsbruck vertriebenen israelischen Juden ein. Das jüdische Leben Innsbrucks wurde so wieder ganz normaler Teil der öffentlichen Wahrnehmung. Das Jüdische Museum in Hohenems wurde eröffnet, die Historiker legten erste Bücher zur NS-Zeit in Tirol vor.

Im März 1993 konnte die Synagoge feierlich eingeweiht und ihrer Bestimmung übergeben werden. An diesem Festakt nahmen über 600 Menschen teil, unter ihnen unzählige Ehrengäste aus Politik, Kultur und Wissenschaft. Auch diesmal wurden die vertriebenen israelischen Juden zur Feier vom Bürgermeister der Stadt Innsbruck eingeladen.

Portal der neuen Synagoge in der Sillgasse

Die Synagoge wurde seither wieder zum spirituellen und administrativen Zentrum der Gemeinde und ist ein wichtiger Ort für jüdische Touristen – nicht nur zu den Feiertagen.

Im November 1995 wurde im Rahmen des „Landtages der Jugend“ ein Antrag für die Errichtung eines Mahnmals für die Ermordeten Juden in der „Reichskristallnacht“ eingebracht. Nach einem Schülerwettbewerb wurde als Siegerprojekt eine Menorah ausgewählt, die die Namen der in dieser Nacht Ermordeten an ihrer Basis trägt.

Menorah am Landhausplatz nach dessen Neugestaltung 2010

Die Menorah wurde im Juni 1997 am Landhausplatz von Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg eingeweiht. Dazu wurden durch den Gastgeber Landeshauptmann Wendelin Weingartner die vertriebenen Innsbrucker Juden aus der ganzen Welt (England, USA, Kanada, Israel etc.) eingeladen.

Im Frühjahr 2007 begann die wissenschaftliche Erforschung des alten jüdischen Friedhofs am Judenbühel – angeregt durch Bischof Dr. Reinhold Stecher und unterstützt von der Stadt Innsbruck. Der Archäologe Michael Guggenberger konnte gemeinsam mit dem Historiker Niko Hofinger den exakten Verlauf und die Beschaffenheit der Friedhofsmauer sowie den Zugang zum Friedhofsareal klären und dokumentieren.

Gedenkstätte Judenbühel

Im Sommer 2009 wurde das Areal entlang des ursprünglichen Mauerverlaufes neu eingefriedet und damit sichtbar gemacht, ergänzt durch eine Informationstafel. Die so entstandene Gedenkstätte Judenbühel wurde von Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg im Beisein von Altbischof Reinhold Stecher und Diözesanbischof Manfred Scheuer im Juli 2009 eingeweiht. (siehe „Friedhof“)

Bereits ein Jahr zuvor, im November 2008, war auf dem Gelände der Universitätsklinik Innsbruck ein Mahnmal zur Erinnerung an die im März 1938 Vertriebenen der Medizinischen Fakultät eingeweiht worden. Die künstlerische Gestaltung übernahm die aus Israel stammende und in Wien beheimatete Bildhauerin und Malerin Dvora Barzilai.

Im Dezember 2014 wurde das Gemeindezentrum der Israelitischen Kultusgemeinde um einen Bibliotheks- und Veranstaltungsraum erweitert, in dem seither Feste, Kulturveranstaltungen, Diskussionen und Gemeindeversammlungen stattfinden.

Mehzwecksaal und Bibliothek im neuen Gemeindezentrum der IKG

Im Mai 2016 wurde Günter Lieder zum neuen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg gewählt und folgte damit Esther Fritsch nach, die 29 Jahre lang an der Spitze der Gemeinde gestanden hatte und nun zur Ehrenpräsidentin auf Lebenszeit ernannt wurde.

Ende Oktober 2016 wurde am Waldfriedhof in Seefeld eine Gedenkstätte für die Ermordeten des Todesmarsches 1945 geschaffen. Ende April 1945 waren tausende halb verhungerte jüdische Häftlinge aus dem KZ Dachau evakuiert und zum Teil in Todesmärschen, zum Teil mit der Eisenbahn in Richtung der „Alpenfestung“ geschickt worden. Von den 1700 dieser Juden, die in Seefeld eintrafen, starben viele nur Stunden vor der Befreiung durch amerikanische Truppen. 63 von ihnen wurden am heutigen Waldfriedhof bestattet. Ebenso viele – von Michael Prachensky gestaltete – Würfel stehen heute dort als symbolische Grabsteine der Opfer des Todesmarsches.
Die Gedenkstätte wurde von Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg am 31. Oktober 2016 eingeweiht.

Gedenkstätte am Waldfriedhof in Seefeld

Im Oktober 2019 erfüllte sich die Gemeinde den lang gehegten Wunsch nach einem Buch, das Touristen, Gäste und Interessierte über alles Jüdische in und um Innsbruck herum informiert durch die Herausgabe des Buches „Das jüdische Innsbruck“. Die AutorInnen Niko Hofinger, Sonja Prieth und Esther Pirchner schufen ein Stadtporträt aus jüdischer Perspektive, stellen prägende Persönlichkeiten vor, lassen jene zu Wort kommen, die Alltag und Feste der Israelitischen Kultusgemeinde gestalten, und begeben sich auf die Spuren wissenschaftlicher und künstlerischer Auseinandersetzung mit der jüdischen Gemeinschaft in Innsbruck.

„Das jüdische Innsbruck“ lenkt den Blick auf sichtbare und nicht (mehr) sichtbare Orte im Stadtraum; historische Plätze fügen sich mit den Schauplätzen des heutigen jüdischen Lebens in Innsbruck zu einem vielfältigen Bild zusammen.

Im November 2019 wurde ein zweites großes und langfristig geplantes Projekt realisiert und der Öffentlichkeit präsentiert: „Der Novemberpogrom 1938 in Innsbruck – Schauplätze des Terrors“.
In diesem gemeinsamen Projekt von erinnern.at und der IKG für Tirol und Vorarlberg wurden sämtliche Mordanschläge, Überfälle und Tatorte der Pogromnacht 1938 in Innsbruck vom Historiker Michael Guggenberger minutiös rekonstruiert und in Einzeldarstellungen erfasst. Die den einzelnen Schauplätzen des Terrors zugeordneten Texte wurden zweisprachig (deutsch und englisch) eingelesen und zu Hörstücken verarbeitet, die einer interessierten Öffentlichkeit über Österreich hinaus einen Einblick in die Ereignisse des Novemberpogroms 1938 vermitteln. Besonders die Nachkommen der Innsbrucker Jüdinnen und Juden haben nun Zugang zu einem Teil ihrer Familiengeschichte.
Das Projekt wurde von Niko Hofinger geodatenbasiert als Web-App erschlossen, die einen virtuellen Rundgang mit Bild, Ton und Text zu den einzelnen Schauplätzen des Terrors des Novemberpogroms in Innsbruck ermöglicht: pogrom-erinnern.at

Die letzten Jahre der Kultusgemeinde sind Ausdruck des Zusammenwirkens verschiedenster Menschen und Institutionen, wie Stadt, Land, Bund, der Kultusgemeinde und dem bischöflichen Ordinariat. Und obwohl die über 160 Mitglieder der Gemeinde über ganz Tirol und Vorarlberg verstreut sind, ist das Pessachfest wieder das zentrale, gesellschaftliche Ereignis der Gemeinde. Zu ihr zählen heute Menschen aller Altersgruppen und Berufe, verschiedener Nationalitäten und auch wieder eine große Zahl an in Tirol geborenen Kindern.

Literatur:

Links:

Jüdisches Museum Hohenems
Hohenemser Genealogie